Stellen Sie sich zwei Physiker vor, die sich über thermodynamische Prozesse austauschen wollen, der eine denkt jedoch in Grad Fahrenheit, der andere in Grad Celsius. Können wir ein brauchbares Ergebnis bei einer wissenschaftlichen Diskussion auf dieser Grundlage erwarten? Eher nicht. Es käme auch kein Landwirt auf die Idee, 100 kg der geernteten Äpfel und 150 kg der in seinem Besitz befindlichen Birnen zu einer Apfelmenge mit einem Gewicht von 250 kg sprachlich zusammenzuführen.
Nehmen wir einmal an, Sie eröffnen ein Konto und zahlen bei dem kontoführenden Institut 100 € Zentralbankgeld ein. Sie übergeben demnach dem Schalterangestellten eine 100-€-Banknote, auf Ihrem Konto erscheint darauffolgend ein Guthaben von 100 €. Unterstellen wir jetzt, dass die betreffende Bank diese eingenommene Banknote verleiht, hat sich nun die „Geld“-Menge von 100 € auf 200 € erhöht? Oder sollten wir unterscheiden zwischen dem Kontoguthaben, welches eine täglich verfügbare Sichteinlage darstellt, eine Forderung an die Bank, täglich auf Wunsch des Kontoinhabers das Geld wieder herausgeben zu müssen, und der im Umlauf befindlichen Banknote, die ursprünglich von der Zentralbank als Geld an eine Geschäftsbank übergeben wurde?
So einfach der eben beschriebene Vorgang scheint, so maßgeblich ist er aus meiner Sicht. Sich demnach hochkomplexen Inhalten, wie zum Beispiel den Eigenkapitalvoraussetzungen, den Kreditausfall-, Liquiditäts- und Zinsänderungsrisiken oder der Losgrößen- und Fristentransformation zuzuwenden, bevor die elementaren Begriffsdefinitionen nicht stehen, ist wenig nutzbringend.
Ziel der Vollgeldreform soll sein, dass die täglich fälligen Sichteinlagen außerhalb der Bankbilanz geführt werden und zu 100 % durch Zentralbankgeld gedeckt sind. Als Vorteil dieser Veränderung wird erklärt, dass zu jeder Zeit alle Besitzer solcher Einlagen die Möglichkeit haben, sich ihre Guthaben gleichzeitig in Form von Zentralbankgeld auszahlen zu lassen. Davon abgesehen, dass es einen solchen Wunsch in den vergangenen 65 Jahren in Deutschland nicht gegeben hat, stellt sich die Frage, ob überhaupt ein Geldsystem funktionieren kann, wenn dem Zahlungsmittel kein Vertrauen entgegengebracht würde. Wie viele Kisten Mineralwasser müsste jeder Supermarkt ständig vorhalten, um gewappnet zu sein, damit bei Verlust des Vertrauens in die Versorgungslage jeder Ortsansässige eine große Menge dieses Produkts erhalten kann?
Auffällig ist auch, dass zwischen den beiden Fragen „Wie gelangt neues Geld in den Umlauf?“ und „Wie bleibt das bereits ausgegebene Geld im Umlauf?“ nicht ausreichend exakt unterschieden wird. Sucht man nach der Antwort auf die zweite Frage in den Veröffentlichungen der Vollgeldbefürworter, sind zum Beispiel folgende Aussagen zu finden: Joseph Huber schreibt, dass „die Kunden als Gegenleistung Gutschriften auf Sparkonten“3 erhalten. Thomas Mayer und Roman Huber führen aus:
„Nach der Umstellung auf Vollgeld sind die Banken auf Anlagegelder mehr angewiesen als heute, um Kredite vergeben zu können. Deshalb werden sie Anstrengungen unternehmen, um Geld anzuziehen. Neben normalen Anlagekonten wird es vermutlich auch solche mit speziellen Risikoprofilen und Zinssätzen geben […].“4
Diese Aussagen überraschen umso mehr, da zum Beispiel auch im zuletzt genannten Werk die zerstörerische Funktion exponentiellen Wachstums, ausgelöst durch Zins und Zinseszins, beschrieben wird.
Insofern drängt sich in jedem Geldsystem die Frage auf, welche Methode zum Tragen kommt, damit das sich im Umlauf befindende Geld möglichst gleichmäßig für den krisenfreien Austausch von Waren und Dienstleistungen zum Einsatz gelangt. Unser aktuelles Finanzsystem liefert die Ursache für unerträglich viel Leid auf dieser Welt. Eine große Anzahl an Menschen spüren, dass mit unserem Geld etwas nicht stimmt. Ich wünsche mir, dass sich der Erkenntnisprozess in Verbindung mit den wertvollen Alternativen zum bestehenden System beschleunigt, damit wir möglichst schnell und friedlich zu neuen Wegen finden. Beginnen wir damit, endlich auf wissenschaftlicher Basis zwischen Geld und der Forderung auf Geld zu unterscheiden.
Steffen Henke
1) Deutsche Bundesbank, „Geld und Geldpolitik“, Stand: Herbst 2010, Seite 66
2) Monetative e.V., „Die Vollgeldreform - Warum wir eine neue Geldordnung brauchen“, Flyer Version: 2.0
3) Joseph Huber & James Robertson, Herausgeber & dt. Übersetzung: Klaus Karwat, 2008 Gauke GmbH, Verlag für Sozialökonomie, „Geldschöpfung in öffentlicher Hand“, S. 41
4) Thomas Mayer und Roman Huber, 2014 Tectum Verlag Marburg, „Vollgeld – Das Geldsystem der Zukunft“, Seite 135